Zwischen Wissenschaft und Medien-Hype – Raumtemperatur-Supraleitern auf der Spur

Supraleiter bei Raumtemperatur und Normaldruck könnten unsere moderne Welt grundlegend verändern: kühlungsarme Rechenzentren, effiziente Stromnetze, Fortschritte in der Kernfusion. Was klingt wie die Erfüllung eines Menschheitstraums, hat nur leider ein paar Haken.

Update September 2023:
Auf der EUCAS (European Conference on Applied Superconductivity) wurde in einer Panel-Diskussion der aktuelle Forschungsstand zum Thema Raumtemperatur-Supraleiter einfach nachvollziehbar erklärt. Eine der Wissenschaftlerinnen, die an der Diskussion teilnahm, war Frau Professor Tabea Arndt vom ITEP. Die Aufzeichnung der Veranstaltung (55 min) gibt es hier, reinschauen lohnt sich!

Am 22.07.2023 veröffentlichte eine koreanische Forschergruppe um Sukbae Lee ein Pre-Print-Paper, in dem sie behaupteten, den weltweit ersten Supraleiter bei Raumtemperatur und Normaldruck gefunden zu haben – ein mit Kupfer modifiziertes Blei-Apatit, von den Autoren LK-99 benannt. Die sozialen Medien überschlugen sich, doch die Physikwelt war skeptisch. Die Ergebnisse waren übereilt und unvollständig dokumentiert. Und nach einigen Wochen wilder Spekulationen und aufgeheizter Hoffnungen ist es bislang keiner unabhängigen Forschergruppe gelungen die Ergebnisse des Experiments zuverlässig zu reproduzieren.

Screenshot aus einem Video, in dem der vermeintliche Supraleiter LK-99 partiell schwebt.  CC 4.0 by Hyun-Tak Kim
Screenshot aus einem Video, in dem der vermeintliche Supraleiter LK-99 partiell schwebt. 

Viele Behauptungen, wenig Beweise

Auch die Expert:innen für Supraleiter am ITEP reagierten verhalten auf die Nachrichten aus Korea. Professor Bernhard Holzapfel fasst das Problem zusammen: „Physikalisch spricht prinzipiell nichts dagegen, dass ein solcher Raumtemperatursupraleiter existiert. Allerdings erscheinen seit Jahren regelmäßig Meldungen, die den großen Durchbruch verlauten lassen. Keines davon konnte bisher bestätigt werden“. In der Fachwelt werden solche unbestätigten Supraleiter-Materialien auch scherzhaft als USOs (Unidentified Superconducting Objects) bezeichnet, wie zuletzt beispielsweise im März 2023.

Strenge Auswahlverfahren

Prof. Holzapfel betont, dass eine besonders gute Datenlage nötig ist, um mit so einem Ergebnis an die Öffentlichkeit zu gehen. „Bekanntermaßen erfordern außergewöhnliche Behauptungen auch außergewöhnliche Belege. Ich würde jedenfalls zehnmal nachmessen, bevor ich Ergebnisse mit solchen gesellschaftlichen Auswirkungen veröffentliche“. Beispielsweise reicht es als Beleg für Supraleitung nicht aus, dass ein Material über einem Magneten schwebt, denn das können auch andere diamagnetische Materialien wie z.B. Graphit. Sogar Wasser ist leicht diamagnetisch, so dass es gelingt z.B. Frösche über Hochfeldmagneten schweben zu lassen.

Supraleiter müssen bis zu einer gewissen Magnetfeldstärke ideale Diamagneten sein, d.h. ein Magnetfeld komplett aus ihrem Inneren verdrängen. Zudem muss auch der verlustfreie Stromtransport experimentell klar nachgewiesen werden: Bei echten Supraleitern sinkt der elektrische Widerstand beim Abkühlen plötzlich auf null. Entsprechende Experimente müssen eine hohe Messgenauigkeit aufweisen.

Video-Ausschnitt, dass den vermeintlichne Raumtemperatur-Supraleiter LK-99 zeigen soll CC 4.0
Auf Magneten schweben können nicht nur Supraleiter: Auf diesem Bild schwebt etwas Graphit

Der lange Weg in die Praxis

Doch was wären eigentlich die nächsten Schritte, wenn Forschende einen Raumtemperatur-Supraleiter finden? Zunächst einmal müsste ausgiebig überprüft werden, bis zu welchen kritischen Strom- und Magnetfeldstärken das Material überhaupt Supraleitung zeigt – diese äußerst anwendungsrelevanten Variablen unterscheiden sich nämlich je nach Supraleiter stark. Doch selbst wenn das untersuchte Material optimale Eigenschaften in all diesen Bereichen hat, müssen wahrscheinlich neue Fertigungsverfahren für die kostengünstige Herstellung entsprechender Kabel oder Drähte entwickelt werden. Das kann einige Jahre in Anspruch nehmen. Die Idee, dass so ein „Super-Material“ heute entdeckt wird und morgen in einer Spielekonsole steckt, ist also leider etwas naiv.

Vorsichtiger Optimismus

Das bedeutet aber nicht, dass die Supraleiter-Forschung sinnlos ist. So zeigen die etablierten, bei flüssigem Stickstoff (-196°C) supraleitenden, Kupferoxid-basierten Supraleiter hervorragende Eigenschaften für Energie- und Magnetanwendungen und erste darauf basierende Produkte sind trotz Kühlung bereits im Markt bzw. in der Entwicklung.  Wissenschaftler:innen am ITEP und auf der ganzen Welt verzeichnen regelmäßig große Fortschritte, die zu einem tieferen physikalischen Verständnis der Supraleitung und ihren Anwendungen beitragen. Neue supraleitende Anwendungen mit revolutionären Eigenschaften, wie z.B. extrem kompakte Motoren oder Kabel werden in den nächsten Jahren auf den Markt kommen und vielleicht ist ja tatsächlich eines Tages ein Raumtemperatur-Supraleiter unter Normaldruck dabei – Wir bleiben vorsichtig optimistisch.